Reformvertrag: gemischte Gefühle bei Gewerkschaften [DE]

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Der Europäische Gewerkschaftsbund und soziale NGOs begrüßen den Reformvertrag von Lissabon, auf den sich die europäischen Staats- und Regierungschefs letzte Woche geeinigt haben. Gleichzeitig aber zeigten sie sich enttäuscht über Polens und Großbritanniens Nichtbeteiligung an der Grundrechtecharta.

Institutionelle Reformen

Die Organisation für kleine und mittlere Unternehmen (UEAPME) lobte die Erweiterung der Zahl der Fragen, die unter eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit fallen. Der Generalsekretär von UEAPME, Hans-Werner Müller, sagte, der Reformvertrag werde sowohl den Handlungsspielraum als auch die Geschwindigkeit von Entscheidungen der Europäischen Institutionen erhöhen, und die Stimme der Europäischen Union in der Welt stärken. Müller bedauerte jedoch die Tatsache, dass die Staats- und Regierungschefs der EU nicht die Steuerpolitik in die Liste aufgenommen haben: Dieser wichtige Politikbereich sei oft Gegenstand von Blockaden durch Minderheiten, die besonders für kleine Unternehmen nicht hilfreich seien.

Der Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) nahm eine gegensätzliche Haltung ein und verwies auf die ‚wenig ehrgeizige Natur des EU-Reformvertrags’. Der Verband fügte hinzu, es habe eine wahre Chance gegeben, das soziale Europa wiederzubeleben, beispielsweise durch die Ausdehnung der Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit und durch die Erweiterung der Kompetenzen der Union, die ‚dunklen Seiten der Globalisierung’ und ‚den zügellosen Finanzkapitalismus’ zu kontrollieren. Stattdessen habe man nun eine Reihe von bescheidenen Korrekturen der Rahmenvorschriften der EU, die nur einen begrenzten Einfluss auf die Prozesse zur Stärkung der Kapazitäten Europas, entschlossen in der Welt zu handeln, haben würden. 

Die Plattform der europäischen sozialen NGOs (Social Platform/Soziale Plattform), die soziale NGOs aus ganz Europa vereinigt, zeigte sich besonders erfreut über Titel II des Artikel 8B über demokratische Grundsätze. Hier heißt es: „Die Organe geben den Bürgerinnen und Bürgern und den repräsentativen Verbänden in geeigneter Weise die Möglichkeit, ihre Ansichten in allen Bereichen des Handelns der Union öffentlich bekannt zu geben und auszutauschen.“

Weiter heißt es: „Die Organe pflegen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog mit den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft.“ Der Präsident der Sozialen Plattform, Fintan Farrell, fügte hinzu, dass dieser neue Artikel nicht nur ein ‚unwirksamer Artikel’ sein sollte und forderte dessen unmittelbare Umsetzung durch die portugiesische Ratspräsidentschaft. Farrell erklärte, die EU ihren Bürgern näher zu bringen, sei nicht nur eine Frage der Annahme der richtigen institutionellen Verfahren. Politiker müssten den Glauben der Menschen wieder herstellen, dass die EU auf ihre Bedürfnisse reagieren könne und dass sie an Entscheidungsprozessen teilhaben könnten.


Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Alle wichtigen NGOs, ebenso wie der EGB, begrüßten die Annahme der Charta der Grundrechte als einen bestandskräftigen Teil des Reformvertrags, verurteilten jedoch die Entscheidung des Vereinigten Königreichs und Polens, hier eine Ausnahme zu erhalten. Der Vorstand des EGB sagte, dass die Entscheidung der beiden Länder sowie andere Beschränkungen zur Charta unweigerlich deren Wert nachteilig beeinflussen würden.

Bashy Quraishy, der Präsident des Europäischen Netzes gegen Rassismus (ENAR), nannte den neuen Rechtsstatus der Charta einen wichtigen Schritt nach vorne für ethnische und religiöse Minderheiten in Europa im Hinblick auf den Schutz der Grundrechte für Nichtdiskriminierung, Religionsfreiheit, soziale Rechte usw.

Quraishy fügte hinzu, er sei sehr enttäuscht, dass einige Länder ihre Verpflichtungen hinsichtlich der EU-Grundrechtecharta umgangen hätten. Er erklärte, dass der Ausschluss von der Charta der Grundrechte die Grundlage der Verpflichtungen der EU zu Grundrechten untergrabe. Dies behindere die Entwicklung einer Kultur der Menschenrechte, die zu dem Erlangen von Frieden, Demokratie, gegenseitigem Respekt und geteilter Verantwortung, Toleranz und Teilnahme, Gerechtigkeit und Solidarität, beitragen könne.

Der Präsident der Sozialen Plattform betonte, dass die Charta rechtlich bindend sei und daher ein integraler Bestandteil des Vertrags hätte sein sollen. Er fügte hinzu, es sollte rasch eine Analyse der Auswirkungen dieser Opt-outs durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass die Union ihren Zielen und Verpflichtungen treu bleibe.

Der EGB unterstrich, dass es möglicherweise auch Verwirrung darüber gebe, was genau ‚bestandkräftig’ in Hinblick auf die Mitgliedstaaten bedeute. Der Bund erklärte, Gewerkschaften würden gerne eine eindeutige Bestätigung sehen, dass es keinen Zweifel daran gebe, dass die Charta der Grundrechte für Mitgliedstaaten rechtlich verbindlich sei, nachdem der Vertrag ratifiziert worden sei.


Ziele der EU

Die Soziale Plattform betonte, dass es eine Reihe von sehr guten Bestimmungen im Vertrag gebe. Sie fügte hinzu, die dargelegten Werte und Ziele, die Klauseln zu Gesellschaft und  Gleichheit und der Artikel über die Beteiligung der Bevölkerung am Entwicklungsprozess seien nach Meinung der sozialen NGOs sehr positive Entwicklungen.

Der EGB betonte, dass die Einführung einer vollständigen Beschäftigung als ein Ziel und das Konzept der sozialen Marktwirtschaft aus Sicht der Gewerkschaften im Vergleich zu dem Vertrag von Nizza wichtige Verbesserungen seien.

Der EGB äußerte seine Bedenken, dass in dem neuen Text die Anerkennung der Rolle der Sozialpartner im Vergleich zum früheren EU-Verfassungsvertrag zurückgehen könnte.


Dienste des allgemeinen Interesses

UEAPME begrüßte das vorgeschlagene neue Protokoll zum Reformvertrag. Laut Müller setze dieses den Jahren der Ungewissheit und der ‚sterilen euroskeptischen Polemik’ über die Dienste des allgemeinen Interesses ein Ende. Der Vertrag bestätige, dass es jeder öffentlichen Behörde frei stehe, zu entscheiden, welche Dienste des allgemeinen Interesses sie anbiete, und wie sie dies tue, solange sie im Rahmen des gemeinschaftlichen Besitzstandes handele.

Der EGB begrüßte ebenfalls den Protokollsentwurf, betonte jedoch die Notwendigkeit eines Rechtsrahmens auf EU-Ebene.


Der Weg nach vorne

Im Allgemeinen waren sich die Organisationen in ihrer Kritik des Prozesses, der zum Reformvertrag geführt hat, einig. Müller von UEAPME erklärte, Europa könne keine weitere ‚langsame und schmerzhafte Annahme’ verkraften. Er fügte hinzu, die Staats- und Regierungschefs der EU hätten den Stein ins Rollen gebracht – es sei nun an den europäischen Regierungen und Bürgern, diesen positiven Impuls aufrechtzuerhalten. Eine zügige Ratifizierung werde eine neue Ära ab 2009 einleiten, wenn viele der im neuen Vertrag vorgesehenen Änderungen in Kraft träten. Dies sei eine Möglichkeit, die unter keinen Umständen verpasst werden könne.

Der Europäische Gewerkschaftsbund betrachtet das Jahr der Wahlen des Europäischen Parlaments und der Neuordnung der Kommission als den nächsten Meilenstein auf dem Weg der Reform der EU. Der Bund kündigte an, dass er im Rahmen eines Gewerkschaftsprogramms zu den nächsten Europawahlen 2009 mobil machen werde. Der EGB forderte die EU auf, sobald der Vertrag ratifiziert sei, eine grundlegende Überarbeitung von Europa und seiner die Globalisierung betreffende Wirtschaftspolitik durchführen sollte, sowie eine Überprüfung der Finanzmärkte, der Industriepolitik, einschließlich Forschung und Entwicklung sowie Innovation. Dies werde dem sozialen Europa einen neuen Aufschwung verleihen, um Arbeiter dabei zu unterstützen, die Veränderungen zu bewältigen.

Der Präsident der Sozialen Plattform, Farrell, forderte die EU-Staats- und Regierungschefs nach einem seiner Meinung nach eher geschlossenen zwischenstaatlichen Verhandlungsprozess dazu auf, sich den Menschen und den NGOs zu öffnen, um die praktische Umsetzung der neuen Vertragsklauseln zu diskutieren. Er sagte, dass diese Aufgabe umgehend in Angriff genommen werden müsse: Der Artikel des neuen Vertrags über mitbestimmende Demokratie solle nicht nur ein rechtsunwirksamer Artikel bleiben und die sozialen NGOs forderten von der portugiesischen Präsidentschaft seine sofortige Umsetzung.

Nach zwei Jahren, während denen versucht wurde, die „institutionelle Sackgasse“ zu überwinden, haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU am 18. Oktober 2007 während eines informellen Gipfels in Lissabon auf einen neuen EU-Vertrag geeinigt. Einige kurzfristige Forderungen und „rote Linien“ mussten jedoch erst ausgelotet werden, bevor die Einigung erzielt werden konnte:

  • Das Vereinigte Königreich und Polen habe einen Ausschluss von der Grundrechtecharta gewährt bekommen.
  • Polen ist es gelungen, dass der so genannte Kompromiss von Ioannina in ein Protokoll aufgenommen wurde. Dies ermöglicht einer kleinen Minderheit an Mitgliedstaaten, wichtige Entscheidungen aufzuschieben, die von einer qualifizierten Mehrheit im Rat ‚in einem angemessenen Zeitraum’ getroffen wurden, auch wenn sie keine Sperrminorität darstellen. Die Klausel ist jedoch nicht Teil des eigentlichen Vertragstextes. Dies bedeutet, dass Mitgliedstaaten diese Bestimmung ändern können, ohne das aufwendige Verfahren einer Vertragsänderung durchlaufen zu müssen.
  • Italien hat einen zusätzlichen Sitz im Europaparlament enthalten, und befindet sich somit wieder auf gleicher Ebene mit dem Vereinigten Königreich, mit jedoch einem Sitz weniger als Frankreich.
  • Das Vereinigte Königreich hat seine ‚roten Linien’ verteidigt, und einen weitreichenden Ausschluss in Hinblick auf Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres erhalten.

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