Kardiovaskuläre Erkrankungen in Europa im Jahre 2016: Stellung Deutschlands im Ländervergleich

DISCLAIMER: All opinions in this column reflect the views of the author(s), not of EURACTIV Media network.

Die Sterblichkeit durch kardiovaskuläre Erkrankungen ist in Europa von Land zu Land gravierend unterschiedlich [charnsitr/shutterstock]

Im August dieses Jahres wurde ein weiterer Bericht über die aktuelle Situation von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen in Europa publiziert (Cardiovascular disease in Europe: epidemiological update 2016, European Heart Journal).

Ich möchte im Folgenden die Stellung Deutschlands im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern kommentieren.

Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die Sterblichkeit durch kardiovaskuläre Erkrankungen in Europa von Land zu Land gravierend unterschiedlich ist. Diese Unterschiede sind so eklatant, dass methodische Probleme (z.B. uneinheitliche Kodierung der Todesursachen oder unbekannte Selektionsmechanismen) diese nicht erklären können.

Deutlich werden die Unterschiede z.B. bei Betrachtung der altersstandardisierten Todesfälle kardiovaskulärer Erkrankungen im Allgemeinen und der koronaren Herzkrankheit im Speziellen.

Diese liegen sowohl bei Männern als auch bei Frauen z.B. in den Ländern Belgien, Israel, Frankreich, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweiz, Spanien aber auch in Großbritannien besonders niedrig (Todesraten kardiovaskulärer Erkrankungen bei 200-400 pro 100.000 Einwohner).

Das gegenteilige Extrem sieht man in den Ländern des ehemaligen Ostblocks (z.B. Armenien, Weißrussland, Bulgarien, Tschechien, Baltische Staaten, Russische Föderation, Slowakei und Ukraine (Todesraten für kardiovaskuläre Erkrankungen bei Männern um 1000 bis 1500 pro 100.000 Einwohner).

Deutschland nimmt mit einer relativ niedrigen altersstandardisierten Todesrate, eine Mittelstellung ein. So liegen die vergleichbaren Werte für Deutschland bei 477, Österreich 457, Griechenland 485 und Finnland 480 für jeweils 100.000 Einwohner.

Aus meiner Sicht besteht kein Zweifel, dass zumindest die ausgeprägten Unterschiede der Sterblichkeit die Qualität der medizinischen Versorgung reflektieren.

Wie hat sich die Sterblichkeit innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre entwickelt?

In den meisten europäischen Ländern – so auch in Deutschland, ist diese erheblich zurückgegangen. In Deutschland etwa um 30%, in ähnlicher Größenordnung wie in anderen Ländern. Dieser Rückgang betrifft sowohl die Sterblichkeit für kardiovaskuläre Erkrankungen insgesamt als auch speziell für die koronare Herzkrankheit. Der Rückgang ist sowohl bei Männern als auch bei Frauen deutlich.

Die Ursache dürfte in der verbesserten Diagnostik und Therapie von Herzerkrankungen und speziell der koronaren Herzkrankheit liegen.

Häufigkeit von Herzerkrankungen im europaweiten Vergleich

Die Morbidität (Krankheitshäufigkeit) kardiovaskulärer Erkrankungen ist in der Ukraine, Russischen Föderation, Bulgarien, Weißrussland und Litauen (zwischen 153 und 194 pro 1000 Einwohner) am höchsten. Eine besonders niedrige Morbidität findet sich in den Ländern Luxemburg, Zypern, Irland, Island und Israel (alle unter 50 pro 1000 Einwohner). Deutschland nimmt auch hier, wie z.B. Griechenland, Spanien und Belgien eine Mittelstellung ein (67 pro 1000 Einwohner).

Theoretisch kann die unterschiedliche Morbidität durch eine unterschiedlich gute Erfassung von Herzkrankheiten bedingt sein. Viel wahrscheinlicher dürfte die unterschiedliche Morbidität dagegen Differenzen im Gesundheitszustand der Bevölkerung reflektieren.

Krankenhausbehandlung nach akutem Myokardinfarkt

Unter einer ganzen Reihe europäischer Staaten nimmt Deutschland diesbezüglich eine Sonderstellung ein. Die mittlere stationäre Aufenthaltsdauer nach akutem Myokardinfarkt ist in Deutschland deutlich länger als in allen anderen europäischen Ländern (in Deutschland im Mittel 10,3 Tage, in den übrigen Ländern im Bereich von 5-7 Tage). Auffällig ist die kurze Aufenthaltsdauer in den skandinavischen Ländern Dänemark, Schweden und Norwegen (3,9-4,7 Tage). Die Ursachen für diese Unterschiede sind vielfältig und nicht ausschließlich durch die Bedürfnisse des Patienten bestimmt. Eine lange Aufenthaltsdauer kann für reichlich verfügbare Krankenhausbetten ebenso sprechen, wie eine allzu kurze für bewusste finanzielle Restriktionen in der Diagnostik und Therapie nach einem Herzinfarkt. Adäquat erscheint eine mittlere Aufenthaltsdauer nach ST-Streckenhebungsinfarkt heutzutage bei etwa 5-7 Tagen.

Problematisch ist generell die Mittelwertbildung bei diesem Parameter. DieAufenthaltsdauer folgt nicht einer Normalverteilung, sondern einer sogenannten linksschiefen Verteilung. Die Mehrzahl der unkomplizierten Infarkte hat eine relativ kurze Liegedauer im Krankenhaus, die 10-20% komplizierten Infarkte dagegen sehr lange Liegedauern, bis zum Teil mehrere Wochen, so z.B. nach kardiogenem Schock oder Herzinsuffizienz im Rahmen des Herzinfarktes. Insofern wäre die Betrachtung der Medianwerte sinnvoller als die der Mittelwerte.

Sterblichkeit nach akutem Herzinfarkt

Relativ ungünstig schneidet Deutschland auch bei der vergleichenden Betrachtung der 30-Tage-Sterblichkeit nach ST-Streckenhebungsinfarkt ab. Während in vielen westlichen und zentraleuropäischen Ländern diese Zahl bei zum Teil deutlich unter 7% liegt, beträgt sie in Deutschland 8,7%.

Eine höhere Krankenhaussterblichkeit ist jedoch nicht notwendig auf eine weniger gute Therapie zurückzuführen. Sie kann z.B. auch dadurch bedingt sein, dass in Folge verbesserter prähospitaler Maßnahmen mehr Patienten mit einem ausgedehnten akuten Myokardinfarkt das Krankenhaus lebend erreichen und damit die Mortalitätsstatistik ungünstig beeinflussen. Bewertet werden kann eine höhere Krankenhausmortalität nur dann, wenn auch die Zahl der prähospitalen Todesfälle beim ST-Streckenhebungsinfarkt bekannt ist.

Es ist ebenfalls nicht auszuschließen, dass eine erhöhte 30-Tage-Sterblichkeit durch einen Herzinfarkt besser erfasst wird, wenn die stationäre Aufenthaltsdauer länger ist.

Häufigkeit von Herzkreislaufbeschwerden

Deutschland zeichnet sich im Vergleich zu praktisch allen EU-Ländern durch eine weitere Besonderheit aus: Nach Polen ist der Prozentsatz der Patienten, die über vermutlich kardiovaskulär bedingte Beschwerden berichten, deutlich höher. In Deutschland und Polen 12,8 bzw. 17,7% im Vergleich zum Mittelwert von 9,2%. Eine offensichtlich höhere Prävalenz kann bedeuten, dass die Diagnose und Identifikation kardiovaskulärer Erkrankungen höher ist, kann aber auch bedeuten, dass Menschen in diesen Ländern besser Gelegenheit eingeräumt wird, Ihre Beschwerden zu schildern.

Fazit

Diagnostik und Therapie kardiovaskulärer Krankheiten in Deutschland sind gut und entsprechen im Wesentlichen dem Standard der meisten westeuropäischen Länder. Nach den Mortalitäts- und Morbiditätszahlen nimmt Deutschland allerdings keine Spitzenstellung in Europa ein. Die besonderen Vorzüge und Defizite Deutschlands in der kardiovaskulären Medizin gibt der „Europäische Herzbericht“ nicht wieder, da entsprechende Parameter nicht erfasst wurden.

Als besondere Vorzüge sind bekannt: Rasche Verfügbarkeit eines großen Spektrums an diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen für die gesamte Bevölkerung (nicht Privatpatienten).

Als besondere Defizite sind ebenso bekannt (und hierzu gibt es auch Zahlen): Unzureichende Präventionsmaßnahmen und unzureichende Aufklärung vor allem in der Kinder- und Jugendzeit.

Prof. Dr. Thomas Meinertz ist Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie sowie für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie sowie Vorstandsvorsitzender der Deutschen Herzstiftung.

Subscribe to our newsletters

Subscribe