Chlorhühnchen-Debatte: Das Problem sind die europäischen Hühner

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Die "Chlorhühnchen" gruseln die deutschen Verbraucher. Foto: dpa

In Europa geht die „Chlorhühnchen“-Hysterie um. Schuld daran ist TTIP. Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA gilt bei Vielen als Einfallstor für laxe US-Standards. Dabei können die Europäer viel von den Amerikanern lernen – gerade beim Chlorhühnchen.

Ganz sicher haben Sie das auch schon gelesen oder gehört: Wenn es das TTIP geben sollte, dann geht unsere Demokratie vor die Hunde (Investitionsschutz), werden unsere guten deutschen und europäischen Standards geopfert (wegen amerikanischem Teufelszeug wie: „Chlorhuhn“, Hormonfleisch, genetisch modifizierten Organismen), ist unsere deutsche und europäische Kultur vom Untergang bedroht („Identität der Kulturnation Deutschland schützen“). Zudem handele es sich um Geheimverhandlungen, hinter verschlossenen Türen, von einer seelenlosen Bürokratie betrieben, natürlich völlig intransparent. Wem ginge da nicht das Messer in der Tasche auf? Ist die Erbitterung doch inzwischen ohnehin groß genug über die Amerikaner, angesichts der massiven NSA Bespitzelung und eines Bauchgefühls, dass amerikanische Militäreinsätze im Ausland in den letzten Jahren nicht nur Probleme lösten.

Und weil es diese Sorgen und Behauptungen gibt, versprechen mittlerweile eifrig Politiker jeder Couleur, dass sie niemals zulassen werden, dass unsere Demokratie vor die Hunde geht, oder unsere guten deutschen und europäischen Standards und unsere deutsche und europäische Kultur auf dem Altar des Marktes und der Konzerne geopfert werden und plädieren für Transparenz. So darf auch der Letzte noch bösgläubig werden, dass der geplante große transatlantische Wirtschaftsraum, von dem übrigens schon Kennedy träumte (und Ludwig Erhard auch), keine gute Idee ist. Schließlich warnt die Politik ja nicht grundlos. Warum sonst versicherte die Kanzlerin besorgten Wählerinnen und Wählern, dass niemals das amerikanische „Chlorhühnchen“, das schlechthin das Symbol des amerikanischen Angriffs auf den europäischen Gesundheits-, Verbraucher-, Tier- und Umweltschutz ist, europäischen oder gar deutschen Boden betreten wird. Damit ist klar: „Chlorhühnchen“ sind jetzt Chefsache, so wie einst bei Konrad Adenauer die Hähnchen. Das alles ist leider keine Posse des deutschen Politkabaretts, sondern bittere Realität.

Auffällig ist, dass es keine politische Debatte gibt, die sich mit öffentlichen Sorgen und Ängsten beschäftigt. Wer TTIP retten möchte, müsste sie führen. Stattdessen wird der öffentlichen Meinung (oder was man dafür hält) hinterhergehechelt. Nehmen wir die beklagte mangelnde Transparenz (Gabriel: mehr Transparenz notwendig). Wer diesen Vorwurf erhebt, will das ganze Projekt nicht, oder hat nicht verstanden, was es bedeuten würde, wenn jeder Schritt in den Verhandlungen schonungslos offengelegt würde: also auch die Perioden der Stagnation, die Phasen, in denen beide Seiten sich bewegungslos belauern. Verhandlungen sind keine Kuschelrunden und auch kein öffentlicher Debattierklub. Erst in den Verhandlungsergebnissen zeigt sich, ob die Verhandlungsziele erreicht wurden. Falls die TTIP-Verhandlungen je erfolgreich sein werden, wird sich das Ergebnis im hellen Licht der Öffentlichkeit bewähren müssen, unterstützt von allen Mitgliedstaaten, ratifiziert vom Parlament. Falls auch nur einmal das Wort „Kultur“ im Text vorkäme, müssten wahrscheinlich überdies alle nationalen Parlamente der 28 EU-Mitgliedstaaten ebenfalls zustimmen. Da zählen, wie in jeder Demokratie, Mehrheiten.

Dass eine Minderheit, wie die GRÜNEN, die TTIP-Verhandlungen von vornherein obstruierte, und das komplette Verhandlungsmandat öffentlich machte, war ein ungeheuerlicher Vorgang. Damit konnten die Amerikaner nachlesen, was die europäischen Kerninteressen sind, die alle Mitgliedstaaten gemeinsam definiert hatten. Wie soll da noch von gleich zu gleich oder gar erfolgreich verhandelt werden? Wieso setzt sich auch niemand damit auseinander, dass bei nicht minder weitreichenden Abkommen, man denke an die Ukraine oder an die Freihandelsabkommen mit Südkorea, Kanada oder Japan, keiner von notwendiger Verhandlungstransparenz schwätzte, beziehungsweise schwätzt.

Und wie ist es mit der angeblichen drohenden Verwässerung der hohen deutschen und europäischen Standards? Nehmen wir doch mal die deutsche Chefsache Chlorhühnchen.

Das Chlorhuhn ist ein wissenschaftlich breit erforschtes Wesen, darunter durch eine gemeinsame Arbeitsgruppe der Welternährungsorganisation und der Weltgesundheitsorganisation. Denn weltweit ist bekannt, dass Hühner, Geflügel im allgemeinen, unter allen Nahrungsmitteln, ob Bio oder nicht, das größte Gefährdungspotential für Salmonellen und Campylobacterinfektionen  (Zoonosen) beim Menschen in sich tragen. Diese Erkrankungen können insbesondere bei Kleinkindern und älteren Menschen tödlich enden. Sie sind für alle Betroffene äußerst schmerzhaft.

Nach US-Angaben betragen die offiziell bekannten Salmonelleninfektionen 42.000 Fälle jährlich. In der EU werden über 100.000 Fälle jährlich gemeldet. Die Dunkelziffer ist sowohl in den USA als auch in der EU sehr hoch. Das gilt auch für die Campylobacteriose. In den USA liegt die Zahl der geschätzten Erkrankungen bei jährlich 1,2 Millionen Menschen. In der EU wird geschätzt, dass rund 9 Millionen Menschen jährlich erkranken. Jüngste Erkenntnisse legen nahe, dass in der EU durchschnittlich 75 Prozent aller Geflügelschlachtkörper mit dem Campylobacter kontaminiert sind (Kommissions-Papier).

Weltweit wird seit vielen Jahren nach Wegen gesucht, wie man am besten dieser schwerwiegenden Gesundheitsbedrohung durch kontaminiertes Geflügel wirksam begegnen kann, und hier kommt das Chlor ins Spiel: in den USA und vielen anderen Ländern, darunter auch Australien und Neuseeland, werden die Hühnchen in der industriellen Verarbeitung nach dem Schlachten in einem Bad gewaschen, das mit einer Chlorlösung (oder 3 anderen Substanzen) versetzt ist. In der EU wird in Wasser gewaschen.

Eine australische/neuseeländische Studie kam 2005 zu dem Ergebnis, dass das Gesundheitsrisiko für Menschen durch die Kontaminierung von Geflügel mit Salmonellen und Campylobacter im Schlachthof und in der anschließenden Vertriebskette am höchsten sei.

Das haben inzwischen auch europäische Wissenschaftsstudien ergeben. In einer Studie von 2011 wird zudem festgestellt, dass 50 bis 90 Prozent der Krankheitskeime, die Campylobakteriosen verursachen, unter anderem durch chemische Dekontaminierung abgetötet werden könnten, aber dies bisher in der EU nicht erlaubt ist.

Andere europäische wissenschaftliche Studien hatten bereits geschlussfolgert, dass die in den USA  und anderswo eingesetzten vier verschiedenen Substanzen effektiv und nicht gesundheitsgefährdend sind. Die letzte diesbezügliche europäische Studie stammt aus 2014.

Aber wir wollen kein amerikanisches Chlorhuhn, und warum das so ist, erklärte der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Horst Seehofer 2008 (als die Kommission einen Versuch unternahm, das Embargo zu beenden), nach einem Bericht der Berliner Zeitung wie folgt: „Dem deutschen Minister Horst Seehofer zufolge mutet die EU ihren Bauern viel zu, damit sie hochwertiges Geflügelfleisch produzieren. Entsprechende Auflagen hätten US-Farmer nicht – sie tunkten ihr Fleisch am Ende nur in Chlorwasser. Deshalb hält Seehofer eine Zulassung der gechlorten Hähnchen für „ganz falsch“.

Aha, da haben wir des Pudels Kern: wir produzieren in sanfter Weise, organisch, hochwertig, und die Amerikaner haben nichts als die chemische Keule (und schmuddeln im Übrigen). Das klingt gut, stimmt aber leider überhaupt nicht. Tatsache ist, die EU hat ein massives Gesundheitsproblem – durch das europäische Huhn. Aber darüber spricht keiner öffentlich. Noch nicht. Tatsache ist auch, dass die Amerikaner sich seit langem mit der Frage der Gesundheit und des Verbraucherschutzes zu Hühnchen beschäftigen. Wer viel Zeit hat, kann das amerikanische Gesetz durchlesen, das selbstverständlich ganz eindeutig Fragen des Gesundheits- und Verbraucherschutzes in den Mittelpunkt stellt und die generelle Ermächtigungsgrundlage für das detaillierte Handeln der zuständigen amerikanischen Regierungsbehörden bietet.

Klar ist aber ebenfalls, dass die EU und die USA ein unterschiedliches Regelwerk haben, wie man Tiergesundheit, Verbraucher- und Gesundheitsschutz bei Hühnchen am besten gewährleistet. Wie man damit handelspolitisch umgeht, hat nichts mit dem TTIP zu tun, sondern mit WTO-Regeln.

Da geht es um Gleichwertigkeit. Nach WTO-Regeln dürfte die EU das Chlorhühnchen nur dann vom europäischen Markt fernhalten, wenn sie wissenschaftlich nachweisen könnte, dass das amerikanische Vorgehen gesundheits- und umweltschädlich ist, oder zumindest vermutet, das dies so wäre (zeitweiliges Vorsorgeprinzip). Diesen Nachweis konnte die EU bisher aus guten Gründen nicht erbringen.

Merke: Wir, die wir immer darauf bestehen, das internationales Recht gilt und eilfertig bereit sind, anderen die Befolgerung internationaler Regeln nahezulegen (deutsche Gewerkschaften: TTIP-Zustimmung nur, wenn die Amerikaner Kernarbeitsnormen der ILO ratifizieren und sich daran halten), sind gerade bei landwirtschaftlichen Produkten erstaunlich lax und lavieren um WTO-Regeln je nach Gusto herum. Wie bei den Chlorhühnchen. Deshalb liegt der Fall jetzt auch bei der WTO, und dort wird entschieden werden.

Aber die  Chlorhühnchen-Debatte offenbart die ganze Kalamität der TTIP Verhandlungen. Was tun, wenn beide Seiten unterschiedlich regeln? Mit der arroganten Haltung, wir machen das besser als ihr, wird keine Seite vorankommen. Der Ausweg läge darin, dass sich die EU und die USA jeweils zubilligen, dass sie eine vergleichbare Sorge um die Sicherheit, die Gesundheit von Mensch und Tier oder den Umweltschutz umtreibt. Nach gegenwärtigen amerikanischen Regelungen etwa ist kein in der EU zugelassenes Auto sicher. Und doch fahren wir bedenkenlos damit auf unseren Straßen.

Aber zurück zu den Chlorhühnchen. Der Kampf gegen Salmonellen- und Campylobacterinfektionen ist nirgendwo gewonnen. Die Bundeskanzlerin wäre deshalb gut beraten, das zur Chefsache zu machen. Die offiziellen Zahlen legen nahe, dass hier die USA Erfahrungen hat, die wir dringend brauchen. Auch der Kampf gegen Antibiotikaresistenz aufgrund unserer Ernährung (auch durch Hühnchenfleisch) wird diesseits und jenseits des Atlantiks immer wichtiger. Wäre es da nicht höchste Zeit, sich gemeinsam, im Schulterschluss zwischen den USA und der EU darum zu bemühen, voranzukommen? Jeder Mensch, der gesund bleibt, nicht wegen Salmonellen oder anderen Bakterien in Hühnern und sonstigen Geflügel erkrankt oder gar stirbt, oder bei dem die Antibiotika noch wirken, hätte dann etwas ganz konkret von TTIP, nicht nur einen abstrakten Wohlstandsgewinn.

Und was nun die  amerikanischen Chlorhühnchen auf dem europäischen Markt betrifft. Nun, auf unserem Markt tummeln sich längst nicht nur die vermeintlich „hochwertigen“ europäischen Hühnchen. Die EU importiert auch aus Brasilien und Thailand „hochwertiges“ Huhn. Wegen der EU-US-Streitigkeiten um das Chlorhühnchen  sind Amerikaner jetzt über Brasilien mit Europa im Geschäft. Und denken über neue Mittel zur Dekontaminierung nach, während europäische Wissenschaftler gerade anfangen, die gesundheitspolitische Notwendigkeit einer Dekontaminierung der Hühner auf dem Schlachthof zu begreifen.

Was mich zudem umtreibt, ist, dass ein Zukunftsprojekt wie TTIP so leichtfertig und bedenkenlos aufs Spiel gesetzt wird, wie das seit einigen Monaten bei uns der Fall ist. Noch verbindet die EU und die USA viel mehr als uns trennt. Gelänge uns keine Einigung, wie viel Hoffnung auf Einigung in dieser komplizierten Welt könnte man dann noch haben?

Die Autorin

Dr. Petra Erler ist Geschäftsführerin der „The European Experience Company GmbH“ in Potsdam und ehemalige Kabinettschefin des damaligen EU-Kommissars Günter Verheugen in Brüssel.

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