Jährlich sterben Hunderttausende Frauen bei oder nach der Geburt ihres Kindes, HIV trifft besonders oft junge Mädchen in armen Ländern. Das sei kein Zufall, meint die frühere Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im Interview. Sie fordert auch von der EU, Frauen auf politischer Ebene stärker zu fördern und Männer umzuerziehen.
Heidemarie Wieczorek-Zeul ist eine deutsche SPD-Politikerin und war von 1998 bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Sie engagiert sich unter anderem ehrenamtlich als Vizepräsidentin der Freunde des Globalen Fonds Europa.
EURACTIV.de: Ihr Amt als Bundesentwicklungsministerin endete 2009. Noch immer gibt Deutschland weniger Entwicklungsgelder, als seine Selbstverpflichtung vorgibt. Wären Sie Beraterin von Minister Gerd Müller, welche Änderungen würden Sie anraten?
Ich finde, öffentliche Ratschläge gehören sich nicht. Aber das wichtigste ist meiner Ansicht nach, dass auch in Deutschland die Bedeutung der Nachhaltigkeitsentwicklungsziele ins Bewusstsein aller Regierungsmitglieder und auch der Öffentlichkeit rückt. Dazu gehört auch, dass man in den Partnerländern, mit denen wir kooperieren – also mit den Regierungen und der Zivilgesellschaft – die Fragen der SDG-Umsetzung entsprechend verankert.
Die SDGs umfassen erstmalig Vorschriften zu Gender- und Mütterrechten. Sehen Sie bereits einen echten Wandel in der europäischen Entwicklungsagenda?
Zentrale Ziele der neuen SDGs wie die Beendigung der Diskriminierung von Frauen, ihre Gleichstellung, ihr Zugang zu anständigen Gesundheitssystemen und Mitteln zur Bekämpfung von HIV, Aids, Malaria Tuberkulose und so weiter müssen dringend erreicht werden.
Praktisch muss also sowohl auf der multilateralen als auch der bilateralen Ebene Sorge getragen werden, dass in den betroffenen Ländern Frauen ihre sexuellen und reproduktiven Rechte wahrnehmen können. Rund 225 Millionen Frauen brauchen weiterhin Zugang zu Mitteln der Familienplanung. Es ist ja kein Zufall, dass die Müttersterblichkeit immer noch dramatisch hoch ist. Etwa 300.000 Frauen sterben jedes Jahr während Schwangerschaft oder an den Komplikationen danach. Schwerpunkte müssen der Zugang zu Hebammen und Gesundheitseinrichtungen und überhaupt genügend ausgebildete medizinische Kräfte sein.
Sie sagten beim World Health Summit in Berlin, wären mehr Politiker in armen Ländern weiblich, wäre die Gesundheitsvorsorge für Frauen viel besser. Doch die zehn Länder mit den höchsten Geburtenraten liegen alle in Subsahara-Afrika, wo Mangelernährung, schlechte Gesundheitsversorgung und hohe HIV-Raten bei Frauen Alltag sind.
Ich sage das noch drastischer: Wenn die Männer im globalen Süden die Kinder gebären würden, wäre das Gesundheitssystem das finanziell am besten ausgestattete System. Das zeigt, dass das große Problem in weiten Teilen noch nicht angekommen ist.
Wie ändert man die Einstellung der Männer und wie kann Hilfe zur Selbsthilfe aussehen?
Man muß Frauen auch auf politischer Ebene stärken. Für die Anträge an den Globalen Fonds gibt es in den Partnerländern die Country Coordinating Mechanisms (CCMs), in denen Frauen sehr stark vertreten sein sollen und sich die männlichen Vertreter den realen Problemen von Frauen stellen müssen. Und es gibt wegweisende Initiativen, wie Future Beats in Südafrika, das über die lokalen Radios auf dem Uni-Campus in der Sprache von Jugendlichen auch Männer erreicht und hoffentlich beiträgt, ihr Verständnis zu fördern und Gewalt zu verhindern.
Wie verbreitet man solche Ideen und Projekte weiter?
Praktische Aktionen vor Ort müssen unbedingt durch die Bundesregierung, die EU und die UN-Organisationen gefördert werden. Mich bedrückt besonders, dass zum Beispiel bei den HIV-Neuinfektionen von Jugendlichen in Südafrika zu 74 Prozent junge Frauen betroffen sind. Das zeigt auch, dass man Frauen stärken, aber auch männliches Verhalten ändern muss.
Je stärker Frauen ökonomisch und politisch sind, desto besser können sie mit dem Partner über Verhütung und die Nutzung des Kondoms sprechen. Wer – auch wirtschaftlich – abhängig ist, kann darüber mit dem Partner eher nur theoretisch diskutieren.
Ich unterstütze ehrenamtlich auch die Initiative „International Partnership For Microbicides“. Den entwickelten Vaginalring, der stufenweise ein Medikament zum Schutz vor HIV-Infektionen abgibt, können Frauen ohne Arzt einsetzen. Mittlerweile kann gegenüber der European Medicine Agency der Antrag auf Zulassung gestellt werden, aber der Ring muss dann natürlich auch umfassend zur Verfügung gestellt werden. Die Weiterentwicklung sieht vor, dass der Ring neben seiner antiviralen Wirkung auch verhütet. Das wäre mein Traum.
Leistet die aktuelle EU-Politik für den angestrebten Wandel genug Unterstützung?
Ich finde es auf jeden Fall wichtig, dass die EU-Kommission einen substanziellen Beitrag zur Wiederauffüllung des Globalen Fonds geleistet hat. Die Stärkung von Frauen und auch der Gesundheitsinstitutionen ist auf jeden Fall Aufgabe der EU. Das braucht Mittel. Kristalina Georgieva wird ja bald nicht mehr für den nächsten EU-Haushalt zuständig sein, sondern Günther Oettinger. Wir werden sehen, wie Herr Oettinger dies fortführt.
Kritiker warnen, dass die EU-Kommission in den Haushalt für die Entwicklungszusammenarbeit zusätzlich zu SDGs und Klimavertrag eine „Sicherheitssagenda“ integrieren könnte – also Entwicklungsgelder in Drittländern als Druckmittel genutzt werden, den Zulauf von Flüchtlingen zu kontrollieren.
Ich halte alle Vorstellungen des containments bei Flüchtlingen für absurd. Das wird nicht funktionieren und ich halte es für eine falsche politische Weichenstellung. Europa und auch Deutschland müssen eine managing migration Politik praktizieren – eine Form, die auch eine geregelte Zuwanderung etwa für die Ausbildung von Menschen ermöglicht, die aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen.
Bei den SDGs geht es um die Vision eines sozialen und ökonomischen Wandels. Das heißt, auch den Klimawandel als größten Treiber von Armut zu bremsen. Man kann davon ausgehen, dass etwa 100 Millionen Menschen bei weiterer Fortsetzung des Klimawandels zusätzlich arm werden. Auch ein Teil der Agrarexport-Politik ist unfairer Wettbewerb und muss ebenso beendet werden, wie die Fluchtursachen „made in Europe“.
Meinen Sie damit auch Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika wie das Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) mit dem Süden Afrikas?
Als ich noch Ministerin war, ging es auch schon um die Frage, wie man Abkommen mit den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten fortsetzen beziehungsweise beenden sollte. Richtig ist an diesem Ansatz, dass man dazu beiträgt, größere Märkte zwischen afrikanischen Ländern und in den Regionen zu fördern. Sonst haben sie keine Chance, ihre eigenen Produkte auf den Weltmärkten zu exportieren. Falsch ist es, auf den wechselseitigen Freihandel mit der EU zu setzen, denn das bedeutet noch eine Verschärfung der Probleme in Afrika. Die Art der jetzigen Handhabung ist jenseits von wirklichen europäischen Überzeugungen und von sinnvoller Entwicklungspolitik. Man muss anerkennen, dass dieser Ansatz gescheitert ist.